Ronald Willmann

Auf dem Höhepunkt

Der Gipfel! Es musste der Gipfel sein! Nach allem, was ich bisher von und über meine Urlaubsgegend gehört hatte, musste es eben der Gipfel sein.

„Talwanderungen okay – aber die Krönung eines Bergurlaubs ist und bleibt der Gipfel“, schwärmte mir mein Kollege Knollenberg vor.

Er hatte bereits einige Male die bezaubernde Bergwelt von Leutachermoos genossen und sein beharrliches Schwärmen brachte mich erst in diese missliche Lage. „Och, wie schön, da könnten wir wirklich mal hinfahren!“, ließ sich meine Frau anstecken und ich hatte den Salat. Denn das „könnten“ hat bei ihr die Bedeutung von „wir werden“.

Das Quartier beim Hinteregger-Xaver im Ortsteil Hinterleutachermoos machte Knollenberg für uns klar. „Mich kennt er und da macht er einen guten Preis“, versicherte er uns und so durfte ich Tag für Tag 85 Euro für eine Bodenkammer plus Frühstück blechen.

Das Refugium bot aus dem kleinen Fensterchen zwischen Spinnweben und Fliegendreck hindurch einen überwältigenden Ausblick auf den alles beherrschenden Gipfel. Übermächtig überragt er das Tal und irgendwie empfinde ich ihn von Beginn an bedrohlich. „Jo, do kimmt kaaner drum rum, do muss mer aafach mal obn g’wesn san, sonscht bischt gar net richtig hier g’wesn!“, versichert mir der Xaver, während ich überlege, wie ich diese unheimliche Bedrohung verdrängen könnte.

Durch Kultur! Im Fremdenverkehrsamt jagte alle vier Tage eine Veranstaltung die Nächste, mit Titeln wie „Das geheime Nachtleben des Bergrohrspatzsängers“ oder „Makramee für Anfänger“. Davor stand noch ein anderes Thema auf dem Programm: „Faszination Gipfel“.

Ich hätte ins Plakat beißen können. Haben hier alle eine Gipfel-Macke? Was ist an dieser baumlosen Riesen-Klamotte, die ein Scherzkeks der Natur ausgerechnet vor unser Fenster fallengelassen hat, nur so Besonderes?

Ich erfahre es bei einer geführten Talwanderung. „Die Leutachermooser Ache nimmt ihren Ursprung direkt unterhalb des Gipfels“, deklamierte der Wanderführer, ohne dass mich das wirklich überrascht hätte. Wahrscheinlich kommt hier alles vom Gipfel, sogar die Brötchen, die uns Xaver jeden Morgen serviert. Das würde auch erklären, warum sie so trocken sind!

Jedenfalls ist es, wie ich erfahre, nur dem Gipfel zu verdanken, dass die Ache ihre typischen kristallenen Kiesel mitführt, die das Bächlein im Sonnenlicht so charakteristisch spiegeln lassen. „Schööön“, bemerkte meine Frau und starrte mit zunehmender Sehnsucht im Blick zum Gipfel. „Wie kommt man da eigentlich hin?“, fragte sie den Wanderführer.

Die Ostroute, erläuterte dieser eifrig, ist der Königsweg unter den Aufstiegen. „Von jeder Biegung aus hat man einen anderen Blick auf den Gipfel, einfach herrlich!“. „Gibt’s hier auch irgendeinen Weg, auf dem man diesen vermaledeiten Gipfel nicht sieht?“, brumme ich verdrossen.

Aber mich beachtet ja keiner. Alle hängen sie wie gebannt an den Lippen des Alm-Öhis mit staatlich geprüftem Wanderführer-Zertifikat, während dieser von der einmaligen und unvergleichlichen Schönheit des Gipfels berichtet. „Da muss man einfach oben gewesen sein!“, endet sein Werbevortrag.

„Verräter!“, denke ich. Du kleines hinterhältiges Würstchen musst ja nicht mehr auf diesen albernen Berg kraxeln!

Bei meiner Frau hingegen ist akutes Bergfieber ausgebrochen. „Auf keinen Fall unvorbereitet hinaufsteigen!“, hatte ihr der Wanderführer eingeschärft und so lässt sie nun das „Unternehmen Gipfel“ stetig und beharrlich anlaufen. Aufzuhalten ist es nicht mehr, das sehe ich alsbald ein. Energisch durchstreift sie das Bergdorf, um sich mit Wanderkarte, Wanderschuhen und vier Wanderstöcken auszustaffieren. Zwei für sich, zwei für mich. „Nur mit zwei Wanderstöcken hat man einen wirklich sicheren Halt besonders bei steilen Abstiegen“, erklärt sie mir und ich merke, dass sie diesen Spruch auswendig gelernt hat.

Ha, sicherer Halt beim Abstieg! Wenn es nur erst so weit wäre! Aber so viel habe auch ich begriffen: Bevor es an den durch zwei Bergstöcke optimal gesicherten Abstieg gehen kann, kommt der Aufstieg. Beizeiten früh sollen wir losgehen, rät uns der Xaver. „Sonscht duats dir die Sonn wie bled aufn Pelz brenn’“, versichert er uns. „Und passts fei uff, wann a G’witter kimmt!“ schärft er uns ein.

„Richtig“, freue ich mich, „mit Gewitter in den Bergen ist auf keinen Fall zu spaßen! Gerade an kahlen Gipfeln sind schon mannigfache Bergunglücke passiert, wenn ein Gewitter aufkommt. Und gerade in der Gipfelregion ziehen diese Gewitter dermaßen schnell auf, das glaubt man gar nicht. Dann wünscht man sich nichts sehnlicher, als im sicheren Tal zu sein!“

Sagte ich schon, dass meine Frau höllische Angst vor Gewitter hat? Wenn es bei uns zu Hause auch nur in der Ferne leicht grollt, sitzt sie sofort bei mir auf dem Schoß und befiehlt mir gleichzeitig: „Bitte, Schatz, die Wertsachen und Versicherungspolicen bringst du doch in den Keller, damit nichts passiert! Huch, ich hab ja solche Angst!“

Während ich dann versuche, sie sanft von meinem Schoß zu schieben, ihre Hand zu halten und trotzdem mit irgendwelchen Dokumenten die Kellertreppe zu erreichen, versuche ich sie zu beruhigen: „Mein Zuckerschnäuzchen, uns kann gar nichts passieren, außerdem haben wir Blitzschutz!“. Unser Zweifamilienhaus steht neben einem Viergeschosser.

Doch hier, in Hinterleutachermoos im Antlitz des Tal beherrschenden Gipfels ist von ihrer Gewitterangst nichts zu spüren. Sie übergeht meine sachlichen Hinweise bezüglich der meteorologischen Unwägbarkeiten, so, als hätte ich über ein veraltetes Keksrezept gesprochen. Und Xaver gießt auch noch Wasser auf ihre Mühlen der Ignoranz und behauptet steif und fest, dass ab Wochenmitte beständiges Hochdruckwetter mit nur wenigen Wolken herrschen werde.

Die letzte Nacht vor der Gipfelbesteigung schlafe ich unruhig. In Xavers dunkler Bodenkammer liegend denke ich an die schönen Urlaube am Meer zurück. Sonne, Strand, Erholung pur, einfach mal abschalten und keine aberwitzigen Extrem-Erlebnisziele vor Augen – ja, das sind Ferien!

Was um alles in der Welt hat mich in diese Berge getrieben? Mein Kollege Knollenberg, natürlich, auf der letzten Betriebsfeier! „Urlaub im Hotel am Meer? Nein danke, nicht für lau!“, hatte er mein Ferienideal verhöhnt. „Morgens um Acht pünktlich vor dem Speisesaal stehen, damit man einen freien Platz kriegt. Den Wecker natürlich auf Fünf gestellt, um ein Handtuch auf die Liege am Pool zu legen, denn nach sechs Uhr sind die alle belegt. Dann nicht zu lange am Esstisch sitzen, denn ab halb Neun ist die blaue Gruppe dran. Und schön den ganzen Tag lang die Liege besetzt halten, denn wenn du nur mal für fünf Minuten weg bist, pflanzt sich ein Engländer drauf. Das heißt natürlich, getrennt Mittag essen, einer muss ja aufpassen. Aber langweilig wird’s nicht, denn alle viertel Stunden nervt irgendein Animateur mit Bingo-, Pool-, Boccia- oder sonst was für Spielen. Nee, nee, da lobe ich mir die Freiheit der Berge, die saubere Bergluft, die ungestörte Natur – nicht von hässlichen Hotelklötzen verschandelt! Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein!“

Ich muss zugeben, diese Schilderung hatte mich seinerzeit beeindruckt. Irgendwo hatte der Naturbursche Knollenberg ja Recht. Urlaub am Meer ist letzten Endes immer wieder das Selbe. Du guckst aufs Meer, am nächsten Tag siehst du wieder Meer und wenn es am übernächsten Tag gute Sicht gibt, siehst du noch mehr Meer. Warum sollte man nicht einmal die abwechslungsreiche Berglandschaft genießen? Gesunde Luft, klares Gebirgswasser, kein Massentourismus – zweifellos auch reizvoll!

Ich weiß nicht, wie Knollenberg in seine umschwärmte Berglandschaft gelangt, aber wir brauchten für die Fahrt neuneinhalb Stunden, davon allein sechs Stunden für die letzten 150 Kilometer. Die Einsamkeit der Bergwelt wurde beizeiten zu einem Massenerlebnis. Gerade an unserem Anreisetag wollten weitere geschätzte 250.000 Bergbegeisterte gemeinsam mit uns ihre Individualität in unberührter Natur ausleben. An zahlreichen mehrstöckigen Hotels vorbei – ich fühlte mich schon fast wie am Meer – erreichten wir schließlich kaputt, aber in Vorfreude auf die Ruhe der Bergwelt Xavers Hütte.

Nun ja, die Ruhe an sich ist schon da, nur erfährt sie jeden Morgen gegen 4 Uhr eine jähe Unterbrechung, wenn Xaver direkt unter uns den Dieselgenerator anschmeißt, um seine Melkmaschine in Gang zu setzen. Im Alltag eines Bergbauern hat Morgenstund wahrhaftig Gold im Mund und der Tourist hat keine andere Wahl, als einen Schluck von diesem goldigen Tagesbeginn mit zu kosten..

Im Strandhotel hatten sie keinen Dieselgenerator und auch keine Melkmaschinen, da tuckerte nur jeden Morgen die Müllabfuhr vorm Hotelfenster entlang. Und abends beschallte uns die Disco von nebenan bis in den Morgen. Der Punkt geht nun allerdings an den Bergurlaub: Discogedröhne haben wir beim Hinteregger-Xaver wirklich nicht auszustehen.

Beinahe dämmerten schon die ersten Strahlen des neuen Tages wie eine kaputte Fußgängerampel über die Bergrücken, als ich schließlich in den Schlaf finde. Ich träume – natürlich vom Gipfel. Ich laufe einen Weg entlang und weiß hinter mir den Berggipfel. Als ich mich umdrehe, bemerke ich, dass er mich verfolgt. Ich gehe schneller, doch der Gipfel kommt näher und näher. Während ich renne, schiebt sich sein bedrohlicher Schatten über mich. Meine Beine gehorchen mir nicht mehr. Schließlich stürze ich der Länge nach hin und sehe voller Entsetzen, wie sich die Spitze des Schattens zu mir herunter beugt und, einem Dolch gleich, sich mir in die Brust zu bohren droht. „Neiiin!“, schreie ich im Traum verzweifelt und wache schweißgebadet auf. Meine Frau schläft ruhig neben mir, derweil mein Herz zum Zerspringen pocht.

„Es war nur ein Traum“, beruhige ich mich, lege mich wieder hin und schlafe erneut ein. Diesmal träume ich, dass ich in einem Café sitze. Ich bestelle Gebäck und der Kellner bringt einen Punschkuchen. Dieser hat die Form eines kleinen Berges. Ich esse und esse, aber der Berg nimmt nicht ab, sondern wird immer höher. Als ich mich umschaue, bemerke ich, dass gar keine Leute mehr neben mir sitzen. Stattdessen bin ich von Punschbergen umgeben, die immer näher rücken. Meine einzige Chance ist, sie aufzuessen, aber es werden einfach nicht weniger!

Ich bin richtig froh, als Xaver endlich seinen Weckruf ertönen lässt und die Albträume damit ein Ende haben. Damit beginnt jedoch ein realer Albtraum. Xaver hat entschieden, dass er mit uns auf den Gipfel geht, denn uns Flachland-Tiroler möchte er nicht allein in solch schwieriges Geläuf loslassen. „Dös passt scho“, winkt er ab, als ich ihm vorhalte, welche Umstände er sich damit aufhalst. Er murmelt noch etwas von kleinem Obolus und aus seinem Bergdialekt vermeine ich die Zahl 85 herauszuhören.

Zu Preisverhandlungen komme ich freilich gar nicht, denn meine Frau quiekt sofort begeistert los: „Och, das ist ja ganz entzückend, eine echte Bergtour mit einem echten Bergbauer! Diese Leute kennen die Berge ja wie ihre Westentasche!“

Xaver hat gar keine Weste an, sondern einen dicken Wollpullover ohne Taschen, den er sommers wie winters trägt. Er strömt einen herzhaften Duft ländlicher Rustikalität aus, als wir im Auto sitzen. Xaver meint, wir könnten mit dem Wagen bis an den Fuß des Gipfels fahren, um so den Anmarschweg unserer Expedition etwas zu verkürzen. Der Weg führt uns durch Vorderleutachermoos und Oberleutachermoos, vorbei an Wiesen und Äckern, die in der morgendlichen Kühle dampfen wie frisch gebackener Schokoladenkuchen. Das erinnert mich an meinen Punschberge-Traum und mir dreht sich leicht der Magen um.

Das Auto parken wir am Waldrand und entrichten acht Euro Parkgebühren. Auf andere Berge hätten wir dafür mit der Seilbahn hochfahren können. Ich behalte diese Meinung für mich, denn mir fehlt das entsprechende Umfeld für eine solche Argumentation.

Meine Frau sieht einen Bergbach, hüpft begeistert aus dem Wagen und lässt erneut einen spitzen Schrei erklingen. Diesmal jedoch als Reaktion darauf, dass sich der Stein, auf den sie soeben gehüpft ist, bei der Landung auf die Seite gedreht hat. Selbiges tat meine Frau ebenfalls und jetzt liegt sie, halb im Bachbett, halb am Ufer, und hält sich den Knöchel. Xaver ist schon bei ihr, ich ebenfalls, und gemeinsam setzen wir sie am Ufer ab. Unser Mann aus den Bergen besieht sich den Schaden und stellt fest: „Dös is a deftige Verstauchung, dös wird heut nix mit kraxeln!“

Ich will jetzt nicht sagen, dass mir diese Konsequenz gänzlich ungelegen kommt, wenngleich ich natürlich mit meiner Gattin leide. Ja, sie tut mir selbstverständlich leid, das können Sie mir glauben! Verdammen Sie mich bitte nicht, wenn ich tief in meinem Inneren eine klitzekleine Erleichterung fühle, als ich zu ihr sage: „Ach nee, dass so etwas passieren muss! Wir bringen dich jetzt nach Hause, dort ruhen wir uns aus und in ein, zwei Tagen springst du wieder wie ein Reh über die Wiesen. Dein Knöchel braucht jetzt Ruhe!“

Der Knöchel sicher, dem stimmt auch meine Frau zu. Ich allerdings nicht, wie sie meint. „Schatz, ich ruhe mich aus, warte auf dich, aber du gehst mit Xaver auf den Gipfel! Tue es für mich und mache ein paar schöne Fotos. Oh, so kann ich wenigstens ein bisschen an deinem Gipfelglück teilhaben!“

Ich glaube mich verhört zu haben. Doch bevor ich darüber nachdenken kann, nehme ich wahr, dass mir Xaver einen Rucksack von der Größe unseres gesamten Urlaubsgepäcks auf den Rücken schnallt und mich zu einem Bergpfad schiebt. „Ich bin so stolz auf dich“, höre ich meine rufen und sie schickt mir zum Abschied ein „Ich liebe dich!“ hinterher.

Ach nee! Und wieso jagt sie mich dann mit so einer Mensch gewordenen Bergziege auf diesen an und für sich unbesteigbaren Gipfel? Ich komme kaum dazu, über diese Frage intensiver nachzudenken, denn dazu brauchte ich Ruhe und an die ist nicht zu denken. Xaver legt einen Affenzahn vor, während ich, den riesigen Rucksack auf dem Rücken, versuche, mitzuhalten. Dabei ist volle Konzentration gefragt, um nicht über diese albernen Bergstöcke zu stolpern.

Xaver hat nur einen Knüppel. Ich denke, man braucht deren unbedingt zwei auf einer Bergtour? Ausgerechnet unser Alm-Öhi scheint das nicht zu wissen und ich habe nicht einmal eine Hand frei, um mir den Schweiß von der Stirn zu wischen. Es muss Angstschweiß sein, denn der viel zu frühe Morgen ist saukalt. Ich beneide Xaver um seinen warmen Wollpullover. „Du kimmst scho noch ins Schwitzen!“, versichert er mir treuherzig, während er unter einer Krüppelkiefer eine uralte Pfeife stopft. Fein, eine Pause kann ich gebrauchen!

Doch ich habe die Rechnung ohne meinen Bergführer gemacht. Als ich japsend bei ihm ankomme, stapft er mit den Worten weiter: „Mir san erscht zehn Minuten unterwags, zum Mittag gibt’s a Broatzeit!“

Ich müsste jetzt erwidern, dass ich die zahlende Kundschaft bin und mir auch nach der Genfer Menschenrechtskonvention eine Pause zustünde. Dazu brauchte ich allerdings Atem zum Sprechen, was jetzt eben ein bisschen ungünstig ist. Ich keuche nur, während mein Protesttext im Kopf bereits ausformuliert ist, jedoch nicht über meine Lippen kommt. Ich schaue den Schwindel erregenden Pfad zurück, stelle fest, dass ich hier garantiert nicht wieder heruntergehe, nicht in diesem Leben.

Ich weiß, ich weiß - wenn ich mein Leben nicht als Einsiedler auf diesem Gipfel beenden möchte, muss ich zwangsläufig irgendwann wieder einmal hinunter. Darüber kann ich mir jetzt allerdings nicht den Kopf zerbrechen, die Probleme des Augenblicks fordern mich voll und ganz.

Diese heißen: Gipfel und Xaver. Ersterer, weil ich da hinauf muss – aber wieso eigentlich? Auf diese Frage finde ich keine plausible Antwort, wenn ich mal den unbeugsamen Willen meiner angetrauten Gemahlin ausklammere – und Zweiter, weil ich ihm hinterher muss. Es ist meine einzige Chance, das Ganze zu überleben.

Irgendwie kommt es mir vor, dass man – konkret: der Hinteregger-Xaver – mit einem Stock schneller voran kommt als ich mit meinem vorschriftsmäßigen Doppelpack. Das kann allerdings auch daran liegen, dass ich den zentnerschweren Rucksack schleppe, während sich Xaver lediglich mit Pfeife und Tabaksbeutel abplagen muss. Na klar, er ist ja auch ein alter Mann, geschätzte 85 Jahre. Das kann jedoch nicht darüber hinweg täuschen, dass er wie eine Gämse von Stein zu Stein springt, während ich atemlos hinterstolpere. Kann nur an den blöden Stöcken liegen, doch es kommt für mich nicht in Frage, diese an den Wegesrand zu schmeißen, so teuer, wie die waren. Das ist die gute Erziehung durch meine Frau, zum Teufel damit!

Wir müssen bereits auf gefühlten 6.000 Metern sein, als Xaver mir eine erste Rast gönnt. Ich glaubte, dass aus meinem überdimensionalen Rucksack riesige Verpflegungspakete und Thermoskannen voll duftendem Kaffee, auftauchen, doch damit liege ich nicht ganz richtig. Wasser, bedeutet mir mein Führer, können wir bedenkenlos aus den Bergbächen trinken und als Mahlzeit reicht ein Müsliriegel, weil man sich am Berg den Bauch nicht so voll stopfen soll.

Und was schleppe ich dann die ganze Zeit? Man glaubt es kaum: Jacken, Überjacken, Regenjacken, Regencapes – es scheint, als wollten wir am Berg überwintern. Ich komme mir vor wie eine mobile DRK-Kleiderkammer.

Offenbar hat sich die ganze Welt, zumindest die Bergwelt, gegen mich verschworen. Völlig logisch also, dass ich einen Haufen unnützen Plunder auf diesem unnützen Gewaltmarsch mit mir herumschleppe. Klar, schließlich bin ich nicht zum Vergnügen hier, sondern weil ich den Gipfel brauche.

Und allmählich stellen sich bei mir so etwas wie Rachegedanken ein. Diesem bescheuerten Berg werde ich es schon zeigen, der kriegt mich nicht klein!

Weit kann es jetzt nicht mehr sein. Oder doch? „Jetzt gahts richtig loas mit’m Aafstieg“, höre ich von Xaver. Was soll das heißen? Was war denn die ganze Plackerei bis jetzt? Mit wachsendem Entsetzen verfolge ich, wie Xaver aus den Tiefen meines Rucksacks ein dickes Seil herausholt und langsam um seine Schulter wickelt. Sein Blick wandert derweil nach oben, die im Frühnebel verborgenen Felsen entlang.

Was hat er vor? Will er mich etwa lynchen, am nächsten Baum aufknüpfen? Wer weiß schon, wie diese alten Bergbuben ticken! Touris, die Piefkes, sind für sie vielleicht die natürlichen Feinde ihrer Berge, der sie mit ihren Großstadttretern die Würde nehmen, oder so ähnlich.

Mich beruhigt, dass weit und breit kein Baum mehr zu sehen ist. Außerdem schlingt mir Xaver den Strick nicht um den Hals, sondern unter den Schultern durch. „Damitst net obgehst“, sagt er und zerrt mich, wie einen Hund an der Leine führend, die Felswand hinauf. Meine beiden Teleskop-Bergstöcke hat er zusammengeschoben und an den Rucksack gebaumelt. Jetzt habe ich endlich die Hände frei, dafür schlagen sie mir ständig an den Oberschenkel. Es scheint angesichts der vor mir liegenden Felsen, die auf mich herabblicken wie ein türkischer Türsteher, das kleinere Übel zu sein.

Es geht über Geröllfelder und Felsvorsprünge. Wo hier ein Weg sein soll ist mir ein Rätsel. Verlaufen kann man sich freilich nicht kaum, denn es gibt nur zwei Möglichkeiten: bergauf oder bergab.

Die dritte wäre, einfach sitzen zu bleiben und das Schicksal seinen Lauf nehmen zu lassen. Ja, einfach hinsetzen, mitten in die lebensfeindliche Felswelt. Sollen sie mich irgendwann finden und retten oder auch nicht, jedenfalls müsste ich dann nicht mehr diese Horrortour fortführen. Ich erwäge diese Möglichkeit ernsthaft und je mehr ich darüber nachdenke und je steiler und brutaler unser Aufstieg wird, umso mehr verblassen ihre negativen Aspekte.

Allein Xaver lässt das nicht gelten. „Du kimmst miht, dös hab i daaner Fraa verspruchn! I bring di uff den Gipfel und wenns dös Letzte is wos i due!“ Wild funkeln seine Augen und ich sehe ein, dass er es ernst meint und mein Argument „Ich kann nicht mehr!“ für ihn überhaupt nicht zählt.

Mir scheint, als sei die Königsroute auf den Gipfel, die wir erwählt haben, noch niemals von einem Menschen begangen wurden. Wir treffen auch keinen anderen Wanderer. „Wenntst do uhm bischt, denn bischt glaa a annerer Mensch. Do erlabst Adrenalin pur!“ versichert mir der Pfeife paffende Xaver, während er lässig an die Felswand gelehnt auf mich wartet und mit der anderen Hand das Seil hält. Ich habe jedes Zeitgefühl verloren und mich damit abgefunden, dass ich für den Rest meines Lebens damit beschäftigt sein werde, auf diesen Gipfel zu kraxeln.

Aber ich werde es schaffen! Das lasse ich mir jetzt nicht mehr nehmen. Dieser blöde Berg kriegt mich nicht klein! Ja, so weit haben die mich mittlerweile schon gebracht. Xaver, meine Frau, der Berg. Ich will oben stehen, dieses steinerne Ungeheuer unter meinen Füßen bezwungen sehen! Einfach so mit dem Fuß auf seinen ach so königlichen Gipfel, seine unbezwingbare Würde treten, oh, das wird mir ein Genuss sein! Wütend forme ich am Rand eines Mini-Gletschers einen Schneeball, werfe ihn dorthin, wo meiner Meinung nach der Gipfel sein müsste und fauche: „Na warte, ich komme!“ Xaver kann es nicht lassen, auch das zu kommentieren: „Siegscht, jetzt findst G’fallen dran!“

Es herrscht dicker Nebel, als er mir bedeutet: „Dös Schlimmste is hinner uns, jetz isses nimmer weit.“ Kann es wirklich wahr sein, dass ich es geschafft habe? Habe ich diesen Berg bezwungen? Ich verübele es Xaver nicht einmal mehr, dass seine prophezeite stabile Schönwetterlage mit einem Nebel daherkommt, als wären wir auf einer Bühnenshow von DJ Bobo. Mir ist, als würde ich die Vögel jubilieren hören, wenngleich es in diesen Höhen natürlich keine Vögel gibt. Es müssen die himmlischen Heerscharen sein, die mir zujubeln.

Der Weg wird flacher, steigt nur noch sanft bergan, ja, er ist auf einmal sogar wieder als ebener Weg erkennbar und die Laute der himmlischen Heerscharen nehmen fast irdische Töne an. Dank des Nebels sehe ich immer noch nichts, aber das da klang eben wie menschliche Stimmen. Hörte sich das jetzt nicht wie Kindergeschrei an?

Kindergeschrei??? Fassungslos starre ich Xaver an, doch er bemerkt nur lakonisch: „Dös is die Liftstation, mir san jetzt do!“

Das geht über mein Begriffsvermögen. Er braucht nichts weiter zu erklären, denn die nächsten Laute, die ich vernehme, sind garantiert menschlicher Natur. Ich kenne sie sehr gut, denn sie stammen unzweifelhaft von meiner Frau. Unmittelbar darauf schält sich ihre Gestalt aus dem Nebel, sie humpelt, auf einen Stock gestützt, auf mich zu, umarmt und küsst mich.

Das muss jetzt der falsche Film sein! Ich komme mir vor wie ein Schauspieler, der den Hamlet spielt und allmählich merkt, dass er im „Weißen Rössl“ gelandet ist. Oder ist es schon wieder ein Albtraum? Nein, natürlich nicht, wenn Mann von seiner Ehefrau träumt, kann es ja kein Albtraum sein! Aber - was zur Hölle ist hier los?

„Du hast es geschafft, ich bin so stolz auf dich! Du hast deinen Gipfel, ist das nicht toll?“, herzt mich meine leibhaftige Frau, die ich vor Stunden mit verstauchtem Knöchel am Fuße eines schier unbezwingbaren Berges zurück gelassen habe. Sie kann nicht hier oben sein, das geht doch nicht! Was zum Teufel sprach Xaver von einer Liftstation?

„Ein Auto hat mich zur Seilbahn mitgenommen, denn ich wollte bei dir sein, wenn du ankommst. Oh, was für ein erhebendes Gefühl muss das für dich sein!“

Vielleicht ließe es sich besser mit „übergebendes Gefühl“ bezeichnen. Mir wäre in der Tat danach.

Ich sehe mich außer Stande, etwas zu erwidern, was meine Frau und mein Bergführer darauf zurückführen, dass ich ganz überwältigt bin. Irgendwie bin ich das ja auch. Ich fühle mich einerseits als Held und andererseits auch irgendwie ein bisschen betrogen, ich weiß auch nicht, wie ich das beschreiben soll.

Bevor mich meine Frau ins Panorama-Café am Lift schieben kann, von wo aus wir gemeinsam die Talfahrt antreten wollen, muss ich noch etwas Anderes erledigen. Ich reiße mich von ihrem Arm los und strebe der kleinen Plattform oben am Gipfelkreuz zu, an der sich trotz des miesen Wetters ein paar Touristen in Sommerkleidern und Shorts fröstelnd drängen. Wortlos stelle ich mich zu ihnen. So unauffällig wie möglich stampfe ich ein paar Mal mit den Füßen auf, tue so, als wollte ich mich auf diese Weise wärmen und zische zwischen den Zähnen hervor: „Dir hab ich’s gezeigt!“

Es schwingt ein bisschen Verachtung in meinem Blick mit, als ich schließlich in der Seilbahn-Kabine die Umstehenden betrachte. Was wissen die schon vom Gipfel! Die haben gar kein Recht darauf. Ja, irgendwie nehmen sie den Bergen die Würde, finde ich. Ihnen fehlt die Ehrfurcht vor der Gewaltigkeit der Natur.

Ich kann Ihnen nur raten, lassen Sie sich dieses Erlebnis nicht entgehen. Es ist wirklich einmalig!

Vom Urlaub zurück auf Arbeit berichte ich mit einem Strahlen in den Augen Knollenberg davon. „Du hattest Recht, der Gipfel ist wirklich der Gipfel eines solchen Urlaubs! Was würde mir nur fehlen, wenn ich das nicht erlebt hätte!“

Knollenberg schaut irritiert. „Sag mal, du hast das doch nicht wirklich gemacht, dass du zu Fuß auf diesen Berg hochgegangen bist?“ Er schüttelt nur immer wieder den Kopf und murmelt vor sich hin: „So was Verrücktes aber auch!“

Wie sollte er es auch verstehen, dieser Flachland-Tiroler?